Entwilderung

Stellen wir uns einen Wald vor, vielleicht an einem stillen und einsamen See gelegen, von kleinen Wanderwegen durchzogen, die an romantische Plätzchen führen, kein Autolärm stört die unberührte Natur. Man bewegt sich nicht allzu schnell, dafür hat man die Zeit und die Ruhe, sich mit anderen Wanderern, die einem begegnen, zu unterhalten. Gerade an engen Stellen muss man sich auch etwas auf sie einlassen, kommt ihnen vielleicht sogar relativ nahe, wechselt einige Worte mit unbekannten Fremden. Alle Besucher des Waldes achten darauf, dass der Zustand so bleibt, nehmen Rücksicht auf die anderen und die Natur. Es ist nichts Lautes an diesem schönen Fleckchen, Harmonie und Idylle prägen das Sein, viele Menschen suchen diese Gegend auf und verbringen hier gerne Zeit, im weitesten Sinne miteinander.

Doch im Lauf der Jahre werden die Besucher weniger. Anfangs beinahe unmerklich, doch mit dem Fortschreiten der Zeit schreiten auch immer weniger Wanderer auf den kleinen Wegen fort. Irgendwann fällt einem auf, dass die Begegnungen mit anderen immer seltener werden. Offensichtlich gibt es einen Trend dazu, asphaltierte Straßen zu bevorzugen, die gewisse Vorteile für ihre Nutzer hat: Man kommt schneller vorwärts, wird nicht aufgehalten, indem man sich an Engstellen mit anderen Menschen arrangieren muss, kann ohne ein Wort zu verlieren rasch an sein Ziel gelangen. Dafür nimmt man gerne in Kauf, dass Zwischenmenschliches in den Hintergrund gerät.

Doch Wege, die seltener beschritten werden, geraten im Lauf der Zeit in Vergessenheit, sie verwildern, Pflanzen und Dornen wuchern über sie hinweg und machen sie unpassierbar. Irgendwann kennt sie niemand mehr und auch ihre Vorteile sind aus den Köpfen der Menschen verschwunden.

Dieses kleine Wäldchen durchwandern wir als Gesellschaft, all die kleinen Wege stehen für mich für viele zwischenmenschliche Regungen, eines davon ist die Dankbarkeit. Gerade bei jungen Menschen aus der sozio-ökonomischen Oberschicht scheint mir momentan der Trend in die Richtung zu gehen, unter Überspringen der asphaltierten Landstraßen dieses spezielle Wegchen gleich gegen eine vierspurige Autobahn einzutauschen. In ihrer Welt ist alles selbstverständlich vorhanden, sie kommen schnell voran und haben es schlicht nicht nötig, den Kontakt mit anderen Menschen zu suchen oder zu pflegen. Ihnen sind häufig die kleinen Wege unbekannt, sie bleiben ihnen für immer verschlossen. Mehr und mehr werden für sie Freundlichkeiten, nette Gesten und Freundschaftsdienste zur Selbstverständlichkeit, die sie erwarten und entgegennehmen.

Ich muss gestehen, dass mich diese Entwicklung sehr stört, wenn ich damit konfrontiert werde, da ich gerne für andere arbeite und Leistungen zum Wohle anderer erbringe und mich freue, wenn ich eine gewisse Wertschätzung dafür erfahre. Das motiviert mich dann, auch in Zukunft vielleicht etwas mehr zu tun, als ich müsste. Solange die Autobahnbenutzer die absolute Minderheit darstellen, wird das auch so bleiben, weil ich die Begegnungen mit den Wanderern in der Stille und die kleinen Worte so gerne mag.

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